• Mein_TTR
Inzwischen gibt es den TTR-Wert seit 15 Jahren, also schon eine relativ lange Zeit. Anfangs kritisch beäugt, hat er sich zu einem weithin akzeptierten Maß der Spielstärke entwickelt. Für die Aufstellungen von Mannschaften bei der Jugend, den Damen und Herren sowie im Seniorenbereich leistet er wertvolle Dienste. Doch es gibt auch einige Schattenseiten des berühmten Kennwertes.

Zunächst einmal muss an dieser Stelle mit einem weit verbreiteten Missverständnis aufgeräumt werden: Der TTR-Wert teilt Spielerinnen und Spieler nicht in feste Kategorien wie gut oder schlecht ein. Er sagt lediglich etwas über die Spielstärke aus, welche die Basis für relative Gewinnwahrscheinlichkeiten ist. Wenn beispielsweise Spieler A 1.600 Punkte und Spieler B 1.400 Punkte hat, dann bedeutet dies nur, dass A eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 96% und B eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 4% aufweist. Von 100 Spielen, welche die beiden gegeneinander absolvieren, gewinnt also A statistisch gesehen 96 und B vier. Man kann aber nie sagen, welches einzelne Spiel wie ausgehen wird. Demnach hat auch der Spieler mit dem niedrigeren Wert eine Chance auf den Sieg. Damit macht es generell wenig Sinn, zu sagen, B sei per se ein schlechter Spieler. Seine Chancen stehen nur schlechter. Wenn nun Inhaber von Werten von zum Beispiel 1.500 oder 1.600 Punkten so tun, als ob sie in einem anderen Tischtennisuniversum als Spieler mit 1.400 oder gar 1.300 Zählern leben würden, dann ist das ebenso ignorant wie arrogant. Zumal wenn man sich ansieht, wo diese Aufschneider in kurzen Hosen im deutschlandweiten Ranking stehen. 1.500 Punkte bringen einen im besten Fall auf Platz 44.585, 1.600 Zähler auf Rang 23.474 (Stand: 28. März 2020). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass noch über 44.000 bzw. 23.000 Spieler*innen einen höheren Wert haben. Was soll da bitteschön so besonders an 1.500 oder 1.600 sein?

Der TTR-Wert kann Anspruchsdenken und Konflikte befördern

Menschen neigen zu sozialen Vergleichsprozessen („Er verdient mehr als ich“, „Sie ist größer als ich“ usw.). Exakte numerische Werte wie Einkommen, Körpergröße oder eben TTR-Punkte eignen sich dafür ganz besonders, denn es sind ja harte Fakten (oder was wir eben dafür halten). In der Zeit vor dem TTR-Wert musste man sich darauf verlassen, dass sich im Verein alle darüber einig waren, wo jeder Einzelne steht. Es gab zwar die Bilanzkennzahlen aus der Vorsaison, doch diese waren über verschiedene Ligen hinweg nur äußerst eingeschränkt miteinander vergleichbar. Eine andere Möglichkeit waren die aktuellsten Vereinsmeisterschaften, doch hier hatte in der Regel nicht jeder gegen jeden gespielt, was die Vergleichbarkeit ebenfalls einschränkte. Man musste sich also irgendwie einigen. Aufgrund der unvermeidlichen Subjektivität der Einstufungen waren allzu hohen Ansprüchen gegen diesen Konsens Grenzen gesetzt. Heutzutage hat nun aber jede Spielerin und jeder Spieler einen ganz bestimmten, unverhandelbaren und intersubjektiven TTR-Wert (skurriles Detail am Rande: Es soll sogar schon vorgekommen sein, dass sich Spieler mit diesem vorgestellt haben). Mit dem Wert kann sie bzw. er Forderungen stellen, nämlich an einer bestimmten Position im Mannschaftsgefüge aufgestellt zu werden. Dadurch können bisherige liebgewonnene Rangfolgen ganz schön durcheinander geraten und Konflikte in den Klubs entstehen. Anspruchsdenken trifft auf Neid und das gibt Ärger.

Sperrvermerke sind kontraproduktiv

Das weithin sichtbarste Zeichen für diese Konflikte sind Sperrvermerke. Sie sind so ziemlich das Dümmste, was eine Spielleiterin bzw. ein Spielleiter machen kann. Man befriedet damit nämlich nur scheinbar den vorhandenen Konflikt. Irgendwann zieht der bessere, aber zurück gestufte Spieler (bzw. die Spielerin) frustriert von dannen. Doch auch wenn Spieler*innen freiwillig in einer unteren Mannschaft aufgestellt sein wollen, ist das für den Klub von Nachteil. Zum einen sinken die Gewinnchancen der oberen Teams. Zum anderen fehlen unter Umständen Ersatzspieler*innen bzw. haben diese so geringere Siegchancen. Ein Verein, der Sperrvermerke toleriert, unterwirft sich dem Diktat seiner Spielerschaft. Wenn unbedingt dieselben drei Ignoranten zusammen in einem Team aufgestellt sein wollen, nur weil sie im Jahr 1950 zufälliger Weise zusammen mit dem Tischtennis angefangen haben, dann sollten sie es besser sein lassen und Skat spielen. Man hält dadurch nicht nur die Entwicklung im Verein auf, es ist auch den anderen Spielerinnen und Spielern in der betreffenden Liga gegenüber in höchstem Maße unfair und unsportlich. Das sind Egoismen, die in einem Verein nichts zu suchen haben. Außerdem gibt es ja Toleranzwerte. Niemand fordert, dass ab dem ersten Punkt Differenz genauso und nicht anders aufgestellt werden muss. Deshalb weg mit den Sperrvermerken, es wäre gut für den Sport und würde all die Mimosen vertreiben, die jedes Wochenende die Hallen vollheulen.

Der Glaube an die Allmacht des eigenen TTR-Wertes ist eine Illusion

Generell gilt: Wer ständig auf seinen TTR-Wert schaut, macht sich zum Skalen eines Algorithmus. Der Glaube, alles selber in der Hand zu haben, wenn man nur den eigenen Wert nach oben treibt, ist ein fataler Irrglaube. Denn da sind ja noch die anderen Spielerinnen und Spieler. Jede bzw. jeder kann prinzipiell besser werden. Und was macht man, wenn unvermittelt eine Top-Frau oder ein Top-Mann in den eigenen Verein wechselt und die eigenen Ambitionen auf einen Stammplatz in der ersten Mannschaft unvermittelt über den Haufen wirft? Dann war all die Arbeit, all der Stress und all die gespielten Turniere umsonst, zumindest was diese Zielsetzung angeht. Das größte Missverständnis ist es im Übrigen, das TTR-Ranking als eine Skala für die generelle Wertigkeit einer Person anzusehen. Respekt darf nicht von einer Zahl abhängen, sondern davon, wie ein Mensch handelt. Man sollte folglich niemanden gering schätzen, nur weil er bzw. sie 100 Punkte weniger auf dem Konto als man selbst hat. Doch das geschieht zum Beispiel dann, wenn sich das Flaggschiff des Vereins durch sein soziales Handeln einschließlich seiner Kommunikation zu weit von den anderen Teams entfernt oder wenn höher eingestufte Spielerinnen und Spieler nicht mehr mit niedriger platzierten Vereinskameradinnen und Vereinskameraden trainieren wollen.

Zusammenfassung und Fazit

Was lernen wir daraus? Der TTR-Wert ist eine Zahl. Eine Zahl mit einer ganz konkreten Funktion. Er ist die Grundlage für die Mannschaftsaufstellungen und zwar ganz genau zweimal im Jahr. Nur zu diesen beiden ausgewählten Zeitpunkten ist er formal gesehen relevant. Ansonsten ist er entweder schön anzuschauen (wenn er steigt) oder zum wegschauen (wenn er sinkt). Letztlich hat jede bzw. jeder von uns im fortgeschrittenen Tischtennisalter (ab ca. 35 Jahren) einen Wert erreicht, der über einen relativ langen Zeitraum ungefähr konstant ist und so die reale Spielstärke (verstanden als relative Siegchance) angibt. Da tut sich in der Regel nach oben nicht mehr allzu viel. Insofern sollte man sich selbst und anderen einen Gefallen tun und es locker sehen.

Anmerkung: Dieser Artikel entstand schon Anfang des Jahres. Ich bin nur leider erst jetzt dazu gekommen, ihn zu finalisieren. Selbstredend ist die angesprochene Problematik im Moment absolut sekundär wenn nicht gar tertiär. Ich hoffe inständig, dass wir so bald wie möglich wieder in einer Zeit leben werden, in der wir uns gemeinsam ohne große gesundheitliche und wirtschaftliche Sorgen mit unserem Lieblingshobby Tischtennis befassen können. Bleibt daheim und bleibt gesund.